Hörstation:
Zu meinen Zeichnungen, die ich - seit ich arabisch lerne - in beide Schreibrichtungen ausführe, ausführen kann, möchte ich eine Passage aus Siri Hustvedts Text zum Erinnern in der Kunst: Das Horizontale und das Vertikale lesen.
"In der westlichen Kultur ist die räumliche Zeit-Vorstellung meistens eine horizontale Linie oder Pfeilspitze, die sich von links nach rechts bewegt.
Wir stellen uns vor, eine Erzählung entfalte sich in dieser Richtung. Ereignisse werden empfunden, als geschähen sie in einer Links-nach-rechts-Bewegung und die Forschung hat gezeigt, dass handlungs- oder machtbetonte Figuren in Kunstwerken gewöhnlich auf der linken Seite des bildlichen Raums erscheinen - ein Phänomen, das zuerst bei einem unter Aphasie leidenden Neurologie-patienten aufgefallen ist. Obwohl der Mann beim Sprechen Subjekt und Objekt verwechselte, konnte er die gemeinten Bedeutungen durch Zeichnungen klarstellen. Er setzte den Akteur oder das Subjekt seiner Erzählung regelmäßig links in die Bildfläche. Man nahm an, diese Anordnung könne mit den beiden Gehirnhälften und deren Spezialisierung auf rechts und links zu tun haben, wir seien vielleicht anatomisch so gepolt, dass wir das Weltgeschehen von links nach rechts sähen.
Aber die Tatsache, dass die Richtung bei Arabisch und Hebräisch sprechenden Menschen umgekehrt verläuft, von rechts nach links, und dass sie bei Analphabeten oder Vorschulkindern gar nicht zu existieren scheint, machte diese Theorie unhaltbar. Die räumliche Handlungstendenz gibt genau die Lese- und Schreibrichtung wieder...ein schlagendes Beispiel dafür, wie Sprachkultur die Art und Weise prägt, Bilder zu sehen und zu interpretieren, nicht nur im Sinne von Zeit als horizontaler Links-nach-rechts-Bewegung im Raum, sondern auch in der Auswirkung darauf, wie wir Macht im Raum konfigurieren. Es wurde festgestellt, dass Gesichter in der westlichen Porträtkunst häufiger nach links als nach rechts gewandt erscheinen - und dass diese Linkswendung häufiger bei Männer- als bei Frauenporträts auftritt, vielleicht weil der männliche, nicht der weibliche Charakter als "vorausschauend" gilt. Anne Maas und ihre Kollegen haben sich 120 Bilder von Adam und Eva angesehen und Adam in 62 Prozent der Fälle zu Evas Linken gefunden. Man könnte sicher behaupten, beim Paradies-Abenteuer sei die Handelnde eher Eva als Adam, doch auf jenen Bildern übertrumpft Macht die Geschichte."
Aus: Siri Hustvedt, Erinnern in der Kunst: Das Horizontale und das Vertikale, in: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen, Essays über Kunst, Geschlecht und Geist, Rowohlt, 2019, S. 408-409.
Martin Breindl zur Ausstellung Arrows of Time von Cornelia Mittendorfer und Judith Neunhäuserer: Draw a straight line and (don't) follow it.
im basement, 2020, photo credits: Fadi Amraish, Judith Neunhäuserer und Cornelia Mittendorfer