Sabine Lichtenberger zu >Ein Le(e.h.)rstuhl für Käthe Leichter< | Katalog
„Man kann eine Laufbahn (also das soziale Altern, das unabhängig vom biologischen Altern ist, obwohl das eine das andere unvermeidlich begleitet) nur verstehen, wenn man vorher die aufeinander folgenden Zustände des Feldes, in dem sie sich abgespielt hat, konstruiert hat, also das Ensemble der objektiven Beziehungen, die den betreffenden Akteur – mindestens in einer gewissen Zahl anhaltender Zustände - vereinigt haben mit der Gesamtheit der anderen Akteure, die im selben Feld engagiert sind und die demselben Möglichkeitsraum gegenüberstehen.“
Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion.
In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History. Heft 1/1990, S 81
Sabine Lichtenberger
Die Akteurinnen des frauenpolitischen Handlungsraums von Käthe Leichter
Marianne Katharina Pick, geboren am 20. August 1895 in einer bürgerlichen Wohnung in Wien, Rudolfsplatz 1, war Sozialwissenschafterin, Sozialistin, Frauenpolitikerin, Gewerkschafterin. Sie war Sekretärin der Sozialisierungskommission unter dem Vorsitzenden Otto Bauer (1881-1938) und leitete ab 1925 das erste Referat für Frauenfragen in der Arbeiterkammer Wien. Im Februar 1942 wurde Käthe Leichter in der Psychiatrischen Anstalt Bernburg an der Saale oder auf dem Transport vom NS-Konzentrationslager Ravensbrück dorthin mit 1500 weiteren jüdischen Leidensgefährtinnen im Zuge des Euthanasieprogrammes 14f13 ermordet.
Käthe Leichters Leben stand im Spannungsfeld zwischen bürgerlicher Erziehung, jugendlichem Aufbegehren, emanzipatorischem Bildungsbestreben und der Hinwendung zum Sozialismus und zur Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung. Käthe Leichter war ein politischer Mensch und betrachtete die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Verhältnisse nicht als unabänderlich, sondern war davon überzeugt, dass die Menschen gemeinsam an der Veränderung der Gesellschaft mitwirken müssen. Aus diesem Verständnis heraus entstand das Frauennetzwerk von Käthe Leichter, gemeinsam solidarisch für eine gerechte Sache einzutreten. Dieses Verständnis verband alle Akteurinnen des Frauennetzwerkes von Käthe Leichter.
Die Rekonstruktion des immer wieder als legendär bezeichneten Frauennetzwerkes von Käthe Leichter spannt sich von der Kindheit und Jugend in Wien, ihrer Studienzeit in Wien und in Heidelberg, ihrer Tätigkeit in der Sozialisierungskommission und später in der Wiener Arbeiterkammer, in die Zeit der Illegalität ab 1934 und in die Zeit des Nationalsozialismus bis hin zu ihrer Ermordung. Zum Frauennetzwerk von Käthe Leichter gehörten Frauen, die eine bestimmte Funktion in einem Betrieb, in der Partei, in der Gewerkschaft, in der Politik und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen ausübten, einem bestimmten sozialen Netzwerk angehörten und zur Erreichung ihrer politischen Ziele, aber auch der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen von Bedeutung waren. Zum Frauennetzwerk gehörten aber auch ihre politisch aktiven Freundinnen, Studienkolleginnen und auch Hausgehilfinnen.
Die Auswahl und Aufnahme einer Akteurin in den Index des Frauennetzwerks von Käthe Leichter erfolgte gemeinsam mit Cornelia Mittendorfer aufgrund der derzeit verfügbaren Primär – und Sekundärliteratur von und über Käthe Leichter: 165 Frauen wurden definiert. Als Maßstab wurde eine gewisse Intensität einer im weitesten Sinn mit ihrem politischen Werden und Wirken zusammenhängenden Beziehung zu den Akteurinnen angenommen. Käthe Leichter nützte aufgrund ihrer Persönlichkeit alle ihre Tätigkeiten und Funktionen, um ihre Kontakte zu Arbeiterinnen, Betriebsrätinnen, Gewerkschafterinnen, Expertinnen aber auch zu Stadt- und Landespolitikerinnen aufzubauen und zu intensivieren. Dies erlaubte ihr, in ihrer redaktionellen und politischen Tätigkeit, aber auch bei Schulungen auf diese Kontakte und Informationen zurückzugreifen, um immer wieder authentisch über die soziale, ökonomische und rechtliche Lage der Arbeiterinnen und Angestellten zu berichten. Sie schreibt im Vorwort des 1930 erschienen „Handbuches der Frauenarbeit in Österreich“: „… gerade das Zusammenwirken von praktisch und wissenschaftlich tätigen Frauen, von Arbeiterinnen, die ihre Erfahrungen unmittelbar aus dem Berufsleben schöpfen, mit Frauen, die ihr Wissen in Verwaltungstätigkeit oder wissenschaftlicher Arbeit erwerben, gibt dem Handbuch ein charakteristisches Gepräge und zeigt zugleich welcher oft ungeahnte Reichtum an geistigen Kräften in der Österreichischen Arbeiterinnenbewegung schlummert“.
Die Akteurinnen des Frauennetzwerkes kannten sich zum Großteil persönlich, sie haben sich auf Gewerkschaftskongressen, sozialdemokratischen Frauen-Reichskonferenzen oder internationalen Konferenzen kennengelernt. Andere Kontakte ergaben sich durch institutionelle Verbindungen oder wurden von anderen Netzwerkerinnen eingebracht. Viele Kontakte waren aufgrund der Persönlichkeit von Käthe Leichter auch freundschaftlich geprägt.
Die zwei wichtigsten Akteurinnen in diesem frauenpolitischen Handlungsraum waren neben Käthe Leichter, Anna Boschek, die Vorsitzende der Frauensektion im Bund der Freien Gewerkschaft, und die Sekretärin der Frauensektion Wilhemine Moik. Die Beziehungen lassen sich durch die Funktionen innerhalb des sozialen, politischen und gewerkschaftlichen „Systems“ erklären, in wenigen Fällen durch andere Faktoren (Familie, Studium, Hausgehilfinnen). Dabei ging es weniger um Freundschaft(en) an sich, sondern um sehr konkrete politische Anliegen und Forderungen, es ging um Gleichberechtigung der Frauen im Arbeitsleben und in der Gesellschaft. In eben diesen Forderungen zeigt sich auch die Aktualität der Bestrebungen von Käthe Leichter. Noch immer ist eine Reihe von Forderungen, wie etwa jene nach „gleichem Lohn für gleiche Arbeit“ nicht erfüllt.
Das Frauennetzwerk von Käthe Leichter war nicht Selbstzweck, sondern es ging um die Umsetzung ihrer politischen Vision. Nur so ist ihre unermüdliche Arbeit, ihr Engagement für gesellschaftliche und sozialpolitische Verbesserungen und ihr Kampf für den Ausbau der Demokratie, für soziale Rechte, für Gleichberechtigung der Frauen und Mitbestimmung in den Betrieben zu verstehen. Es ging um das Aufzeigen und das Anprangern von Missständen, die Formulierung von Forderungen, aber auch um das Hinweisen auf Gefahren, etwa auf den immer stärker aufkeimenden Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die Frauen.
Käthe Leichters frauenpolitischer Handlungsraum schloss auch internationale Beziehungen und Kontakte ein. Durch die Brüche und Umbrüche des 20. Jahrhunderts kam es zu Verschiebungen und letztlich zum Erlöschen dieses Netzwerkes. Einige Akteurinnen haben den Nationalsozialismus überlebt und ihre politische Arbeit fortgesetzt, andere wurden wie Käthe Leichter ermordet.
Der Index des Frauennetzwerks von Käthe Leichter als Ergebnis der Untersuchung stellt den Versuch dar, ihren gesamten frauenpolitischen Handlungsraum so weit als möglich zu rekonstruieren. Dieser umfasste neben bekannten Akteurinnen auch viele Frauen, von denen kaum biografische Hinweise auffindbar sind.
Eine Typisierung und Evaluierung der Beziehungen bleibt einer vertiefenden wissenschaftlichen Behandlung vorbehalten.
Sabine Lichtenberger ist Historikerin am Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte der Arbeiterkammer Wien.